Extreme Armut ist der Nährboden für Menschenhandel und Zwangsarbeit. Hunderttausende Kinder werden weltweit wie Ware verkauft – viele von ihnen für sexuelle Dienste. In den Slums von Kolkata versucht das Hilfsprojekt „Asha Deep” den Kindern und jungen Frauen einen Ausweg zu bieten. Die Reportage ist erschienen im >> missio magazin 4/2022.
TEXT: ANTJE PÖHNER | FOTOS: FRITZ STARK
Wie alt sie ist , kann Buja nicht genau sagen. Die junge Frau lächelt verlegen. Ihr genaues Geburtsdatum kennt sie nicht, einen Ausweis hat sie noch nie besessen. Buja lebt mit ihren beiden Kindern in einer notdürftig aus Holzlatten zusammengezimmerten und mit Plastikplanen bedeckten Behausung ganz in der Nähe des Bahnhofs New Alipore in der indischen Millionenmetropole Kolkata. Hier unter der Durgapur Bridge auf steinigem Gelände haben sich Männer und Frauen ihre Verschläge gebaut, die sonst nicht wissen wohin. Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge oder einstige Wanderarbeiter aus anderen indischen Bundesstaaten, gehören der untersten indischen Gesellschaftsschicht der Dalit an oder sind Zugehörige sogenannter Tribals, indigener Ethnien aus den Bergregionen. In der Hoffnung auf Arbeit machten sich ihre Familien einst auf den Weg in ein vermeintlich besseres Leben – und strandeten in einem der vielen „Bustees“ der Stadt – so nennen sie in Kolkata die Armenviertel. Kaum jemand hat Arbeit, Alkohol und Drogen versprechen einen schnellen Ausweg aus der Trostlosigkeit.
Leichtes Spiel für Menschenhändler
Doch die Realität bleibt. „Die Not in den Bustees von Kolkata ist unvorstellbar“, sagt Schwester Maria Sheeja. Die 42 Jahre alte Sozialarbeiterin ist Direktorin des Hilfsprojekts „Asha Deep“, was übersetzt „Licht der Hoffnung“ bedeutet. Sie und vier ihrer Mitschwestern des Ordens Apostolic Carmel Sisters kümmern sich in Kolkata gemeinsam mit 26 Sozialarbeitern, Lehrerinnen und einem Gesundheitsteam um die Menschen in rund einem Dutzend Slums der Stadt. Etwa 1350 Kinder und 1500 Frauen werden von ihnen betreut. Sie finanzieren die Schulbesuche der Jungen und Mädchen, bieten in 15 Bildungszentren Hausaufgaben- und Nachmittagsbetreuung an und versuchen, den Frauen durch Schneider-, Kosmetik-, IT- oder Betriebswirtschaftskurse den Grundstock für ein kleines eigenes Einkommen mit auf den Weg zu geben. Damit wollen sie vor allem Frauen wie Buja und ihren Familien die Chance auf eine lebenswerte Zukunft ermöglichen – und sie vor Prostitution und Menschenhandel bewahren. „Das ist leider immer noch die Haupteinnahmequelle der Frauen und schrecklicherweise auch der Kinder in den Armenvierteln“, sagt die Schwester. „Die langen Lockdownmonate mit geschlossenen Schulen und Ausgangssperren haben ihre Lage noch einmal verschärft. Damit sind für die Mädchen und Jungen auch noch die Schulspeisungen weggefallen und viele Frauen haben ihre letzten Aushilfsjobs verloren.
Regelmäßig kommt Schwester Sheeja hierher in den Bustee unter der Durgapur Bridge nach New Alipore. Der Slum grenzt an einen großen Truckerparkplatz. Die Lastwagenfahrer warten in der Nähe des Bahnhofs auf neue Aufträge. 200 bis 300 sind es pro Nacht, schätzt Sheeja. „Ich konnte mir das nicht vorstellen, bevor ich es selbst miterlebt habe: Kinder werden hier von ihren Eltern für nur wenige Rupien an die Truckerfahrer ‚verkauft‘“, sagt die Sozialarbeiterin. Um die 50 Rupien Stundenlohn erhalten die Kinder für ihre Dienste – umgerechnet 60 Cent. „Das kann man nicht verstehen, aber wenn der Hunger unerträglich wird, dann sind 50 Rupien die Rettung.“ Die extreme Armut macht es auch Menschenhändlern an solchen Orten leicht. Frauen und Männer sehen oft keine andere Überlebensmöglichkeit, als ihre Kinder den sogenannten Vermittlern zu überlassen. Gerne glauben sie dabei den Versprechungen, die Tochter oder der Sohn werde im Süden eine gut bezahlte Arbeit bekommen. „Die Wahrheit ist, dass die Kinder an Clubs und Bordelle in Mumbai verhökert werden. Manche Kinder kommen nie zurück.“ Auf die Frage, ob denn die Polizei nichts dagegen unternehme, zuckt Sheeja nur mit den Schultern. „Man hört, dass viele von ihnen mit den Vermittlern unter einer Decke stecken und ordentlich Provision kassieren.“
Ausgebeutet seit Generationen
Heute ist Schwester Sheeja in New Alipore mit der Sozialarbeiterin Malabika Basu verabredet. Die 43-Jährige arbeitet seit der Gründung von Asha Deep vor mittlerweile 15 Jahren im Viertel. „Wenn wir heute hierherkommen, sind die Bewohner aufgeschlossen und vertrauen uns ihre Probleme an. Am Anfang wurden wir noch mit Steinen beworfen und mit Fischwasser verjagt“, erinnert sich Malabika. Sie liebt ihre Arbeit im Bustee, gibt aber zu, dass die Perspektivlosigkeit vieler Familien erdrückend ist. „Die Frauen und Kinder werden oft seit Generationen sexuell ausgebeutet. Sie kennen es von ihren Müttern und Großmüttern nicht anders“, erklärt die Sozialarbeiterin. Familiäre Liebe und Zuneigung seien vielen fremd. „Im Elend zu hausen ist ihr Alltag. Manchmal tauchen hier Kinder auf, die von ihren Eltern am Bahnhof einfach zurückgelassen wurden – völlig auf sich alleine gestellt, verdreckt und verwahrlost. Irgendjemand nimmt sich ihrer dann an und gibt ihnen einen Schlafplatz.“
Was Malabika nicht verzagen lässt, sind die kleinen Erfolge. „Für mich ist es eine Riesenmotivation, wenn wir die Eltern davon überzeugen können, dass sie ihre Kinder regelmäßig in die Schule schicken und sie sie nicht mit acht Jahren schon auf Baustellen, in Haushalten oder auf dem Truckerstrich arbeiten lassen, wo sie oft wie kleine Sklaven gehalten werden.“ Malabika und Schwester Sheeja erzählen, dass durch die Arbeit von Asha Deep das Bewusstsein der Menschen hier langsam wächst, dass sie nur durch Bildung dem Teufelskreis der Armut entkommen.
Hoffnung durch Bildung
Nach ihrem Rundgang durch den Slum machen sich die beiden Frauen auf den Weg ins New-Alipore-Center, einem der 15 Ausbildungszentren von Asha Deep. Das schmale vierstöckige Haus ist nur wenige Gehminuten vom Bustee unter der Autobrücke entfernt. Hier in den Räumen findet die Nachmittagsbetreuung für die Kinder statt, Mädchen lernen traditionelle indische Tänze, für die Frauen gibt es Näh- und Webkurse. Gerade rennt ein Teenager die Eingangsstufen hinunter, den beiden Frauen freudestrahlend entgegen. Die 16 Jahre alte Saumeli sei ein wahres Vorzeigekind von Asha Deep, sagt Schwester Sheeja lächelnd und legt freundschaftlich den Arm um das Mädchen. Kennengelernt haben die Schwestern Saumeli vor etwa zehn Jahren durch die Gefängnisseelsorge. Ihr Vater saß damals wegen verschiedener Delikte ein, und er fragte die Schwestern, ob sie sich nicht seiner Tochter annehmen könnten. Die Mutter sei Alkoholikerin, die Großeltern, bei denen sie wohne, schwer krank, keiner kümmere sich um das Mädchen. Das Team von Asha Deep nahm Saumeli in ihre Obhut, finanzierte dem Kind die Schule und unterstützte es wo es nur ging. Heute spricht Saumeli fließend Englisch und will unbedingt studieren. Sie werde Schriftstellerin, sagt sie selbstbewusst und eilt davon. Schwester Sheeja blickt ihr zufrieden hinterher.
Dass es dem Mädchen so gut geht, sei keine Selbstverständlichkeit, sagt sie leise. „Vor ein paar Jahren hat sie uns anvertraut, dass sie vom geistig zurückgebliebenen Bruder des Großvaters missbraucht werde. Sie hat uns furchtbare Verletzungen gezeigt. Wir haben dann alles getan, dass sie aus der Familie herauskommt. Heute lebt sie bei ihrer Tante und hat es dank Therapien geschafft, ein einigermaßen normales Leben zu führen.“
Schwester Sheeja und Sozialarbeiterin Malabika gehen weiter die Treppe des New-Alipore-Centers hoch in einen der Räume in der zweiten Etage. Etwa 50 Frauen haben sich hier versammelt, die sich vor einigen Monaten zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen haben. Sie haben eine Art Spargemeinschaft gegründet und einen Sparplan erstellt. Eine Rupie zahlt jede von ihnen täglich in einen Topf ein, woraus sie sich dann gegenseitige Kredite für die Gründung eines kleinen Geschäftes, wie etwa einen Gemüsestand oder eine Nähstube finanzieren. 50 solcher Selbsthilfegruppen gibt es derzeit in den verschiedenen Zentren von Asha Deep in Kolkata, erzählt Schwester Sheeja. „Wir müssen die Frauen stärken, das ist ihre einzige Chance“, sagt die Projektdirektorin. „Bei uns lernen sie, dass sie nur gemeinsam genügend Kraft haben.“
Was den Frauen Mut macht, ist die Aussicht auf ein eigenes Einkommen. 500 bis 2000 Rupien sind ihr Ziel. Auch Buja ist heute unter den 50 Frauen im New-Alipore-Center. Sie hat hier bereits nähen gelernt, jetzt erhofft sie sich einen festen Arbeitsplatz in einer Schneiderwerkstatt - weg vom Alkohol und von den Drogen. „Damit meine Kinder einmal nicht zu den Truckerfahrern müssen“, flüstert sie verschämt.
MENSCHENHANDEL – WENN KINDER ZUR WARE WERDEN
Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf zufolge sind heute weltweit mehr als 40 Millionen Menschen Opfer von Formen moderner Sklaverei. UNGeneralsekretär António Guterres weist zum Welttag gegen Menschenhandel darauf hin, dass sich der Anteil von Kindern dabei in den vergangenen 15 Jahren verdreifacht habe. So machten sie heute ein Drittel der Opfer weltweit aus, in den Ländern mit niedrigem Einkommen sogar die Hälfte. „Der Frauen- und Mädchenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung ist nach wie vor eine der am weitesten verbreiteten und abscheulichsten Formen des Menschenhandels“, betont Guterres. In Indien hat sich – wie in vielen anderen Ländern der Welt – die Situation in den vergangenen zwei Jahren während der Pandemie noch einmal verschärft. Kinderarbeit und –prostitution haben den missio-Projektpartnern zufolge extrem zugenommen. Auch im Slum von New Alipore in Kolkata war die Lage während der Pandemie schlimm. „Die Not hat die Frauen und Kinder in die Fänge der Menschenvermittler getrieben“, berichtet Schwester Maria Sheeja, Programmdirektorin des Sozialprojekts Asha Deep. Zwar gilt in Indien offiziell die Schulpflicht für Kinder bis 14 Jahre und jede Form von Kinderarbeit ist grundsätzlich verboten – doch die Realität sieht anders aus. Unicef schätzt, dass in Asien jährlich eine Million Mädchen und Jungen für das Geschäft mit Sex ausgebeutet werden.